Aachen
Vor ein paar Jahren hat Julia Maria Rüttgers selbst die Erfahrung gemacht. Die Frau aus Würselen suchte monatelang einen Therapieplatz, dann verlief das Erstgespräch nicht überzeugend, sie suchte weiter. Als die Therapie endlich begann, war sie ein halbes Jahr älter. Sechs Monate Warteschleife für eine psychotherapeutische Behandlung sind keine Seltenheit, sondern trauriger Standard. Der Bedarf nach seelischer Begleitung ist während der Pandemie weiter angewachsen – bei gleichbleibendem Angebot. Rüttgers hat Betriebswirtschaftslehre studiert, sie war schon immer gründungsaffin, sagt sie. Eines Tages saß sie mit zwei Freunden zusammen, mit dem Programmierer Philippe Driessen und der Psychologin Sophie Schürmann. Auch sie hat einschlägige Erfahrungen mit der langatmigen Therapeutensuche gemacht. Die drei Aachener entwickelten eine Geschäftsidee. Wie wäre es, wenn man Patienten mit mentalen Problemen sofort behandeln könnte, statt sie auf die zermürbende Suche zu schicken?
Für alle Bedürfnisse
Ein paar Monate später sind die drei nun Gründer. Rüttgers ist ebenso wie Schürmann CEO (Chief Executive Officer), also Geschäftsführerin, Driessen CTO (Chief Technical Officer), demnach technischer Direktor. Die drei Unternehmer haben „peers.“ gegründet, eine digitale Plattform für alle psychischen Bedürfnisse. „Wir wissen selbst, wie hart es ist, einen Therapieplatz zu bekommen. Wir beobachten, wie veraltet das psychotherapeutische System ist, das auch nicht die di- gitalen Möglichkeiten berücksichtigt“, sagt Schürmann. Die Angebote würden vor allem die Generation Z ignorieren, Menschen, die um die Jahrtausendwende geboren sind.
„Es ist unser Ziel, allen Menschen mit mentalen Herausforderungen eine professionelle Unterstützung zu bieten, egal ob sie eine Diagnose haben oder nicht“, sagt Rüttgers. Und das ohne bürokratische Hürden. Mit ihrem Konzept ließe sich die große Versorgungslücke in Deutschland minimieren. Betroffene sollen aus der analogen Warteschleife ins digitale Besprechungszimmer geholt werden.
Entwickelt worden ist eine Plattform, auf der sich peers, also Gleichgesinnte, treffen können. In digitalen Gruppen erfahren die Teilnehmer sehr schnell, dass sie nicht alleine mit ihren psychischen Problemen sind, sie lernen Lösungsansätze von anderen Betroffenen kennen. „In einer Gruppentherapie kommen eine Reihe von Wirkfaktoren zum Tragen, die sich in einer Einzeltherapie nicht verwirklichen lassen. Oftmals ist die Gruppe selbst der größte heilende Faktor“ sagt die Psychologin Schürmann. „Studien zeigen, dass Online-Therapie genauso effektiv ist wie Offline-Therapie. Sie belegen, dass Gruppentherapie genauso effektiv ist wie Einzeltherapie.“ Begleitet werden die Patienten von angehenden oder ausgebildeten Psychotherapeutinnen.
Interessenten müssen einen Fragebogen für eine erste Empfehlung ausfüllen. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz werden die Gruppen zusammengestellt. Vorerst kümmert sich „peers.“ um Menschen, die unter Stress und depressiven Stimmungen leiden, demnächst sollen auch noch Angststörungen therapiert werden.
Der monatliche Betrag ist etwa so hoch wie die Gebühr in einem guten Fitness-Center. Der erste Monat ist frei, danach werden monatlich 43 Euro Betrag für die wöchentlichen 90-minütigen Videosessions in kleinen Gruppen fällig. Geplant sind zudem Gruppenchats und digitale Tagebücher. „Der direkte Austausch ist ein wichtiger Therapieansatz“, sagt Rüttgers. Die Therapie ist für ein Jahr angelegt, kündigen lässt sich zum dritten Monat.
Auch für Patienten ohne Befund
Das Angebot ist gezielt niedrigschwellig. Hier können sich Menschen mit klassifizierter Diagnose, aber eben auch ohne Befund anmelden. „Wir erfahren, dass junge Menschen den Gang zum Arzt meiden, weil sie den Befund ‚psychische Störung‘ auf keinen Fall in ihrer Krankenakte sehen wollen“, sagt Rüttgers. Hintergrund seien mögliche Auswirkungen auf die Berufsunfähigkeitsversicherung oder auf eine mögliche Verbeamtung.
Die jungen Gründer haben sich ihr Startkapital organisiert. In einer ersten Finanzierungsrunde kam ein hoher sechsstelliger Betrag zusammen, der mindestens für das erste Firmenjahr ausreichen soll. Ihr Konzept überzeugte große Risikokapitalgeber wie zum Beispiel Porsche, die Axel-Springer-Gruppe oder das Schweizer Unternehmen BackBone Ventures, das ebenfalls junge Unternehmen mit anschiebt. Größter Geldgeber ist die Barmenia Krankenkasse. Das Thema mentale Gesundheit gewinne zunehmend an Bedeutung, begründet Marnix Roes von der Firma Crossbuilders, die für die Krankenversicherung solche Partnerschaften umsetzt, die Investition. „Was uns an ‚peers.‘ überzeugt hat, war der persönliche Aspekt. Die Interaktion von Mensch zu Mensch gibt es in dieser Form im deutschsprachigen Raum nicht.“ In absehbarer Zeit soll das Projekt auch den Barmenia-Kunden nähergebracht werden. In ein paar Tagen wird das Start-up in Aachen die ersten Geschäftsräume beziehen. Die Firmenchefs haben das Gründungsprogramm an der RWTH Aachen durchlaufen. Nun sind sie im Collective Incubator an der Jülicher Straße in Aachen untergekommen. In der ehemaligen Jahrhunderthalle können auf 4000 Quadratmetern junge Unternehmen heranwachsen. „Wir haben hier die einzigartige Gelegenheit, Aachen und die gesamte Region als Hochburg für Start-ups neben Berlin und München zu etablieren und damit etlichen neuen Innovationen zur Gründung zu verhelfen“, hatte Professor Malte Brettel, Prorektor für Industrie und Wirtschaft der RWTH, bei der Eröffnung vor ein paar Monaten gesagt.
Das junge Start-up aus Aachen will von hier aus durchstarten. „Wir wollen weiter wachsen“, sagt Rüttgers. Expansionspläne für den deutschsprachigen Raum liegen in der Schublade. In Deutschland ist der Stapellauf für den 15. September geplant. Anmeldungen sind jetzt schon auf der Internetseite www.hellopeers.de möglich.